Qigong in Seniorenheimen

Von Divyam de Martin-Sommerfeldt

Artikel für das Tajiquan & QigongJounal

Qigong in Seniorenheimen
Im vorerst letzten Teil unserer Serie zu Qigong und Taijiquan mit älteren Menschen berichtet Divyam Martin-Sommerfeldt über seine Arbeit in Seniorenwohnheimen. Die meisten TeilnehmerInnen der Gruppen, die er dort anleitet, sind in ihren körperlichen oder geistigen Möglichkeiten mehr oder weniger stark eingeschränkt bis hin zu schwerer Demenz*. Es wird im Sitzen geübt je nach den individuellen Gegebenheiten. Es zeigt sich auch hier, dass sich durch das Qigong-Üben nicht nur die körperliche Gesundheit verbessert, sondern gleichzeitig das gesamte Lebensgefühl und das soziale Miteinander profitieren.


 „Wenn ich diese chinesischen Übungen mache, muss ich dann auch wie die Chinesen denken und sollte ich aus der Kirche austreten?“ Teilnehmerin einer „Chinesisch Fit im Alter“-Gruppe

Meine ersten Erfahrungen mit Senioren und Qigong habe ich in der ambulanten Krankenpflege gemacht. Dort kam die Neugierde meiner Klienten: „Zeigen Sie doch mal, was machen Sie denn da so?“ Und ich zeigte ihnen einige Qigong-Bewegungen, aber unter einer Bedingung: Nur vormachen gilt nicht, mitmachen ist angesagt, um sich einen genauen Eindruck von der Sache zu verschaffen.
Es dauerte nicht lange und der Nutzen wurde für die Betreffenden selbst deutlich. Nach einer Woche täglichen Ausprobierens stellten sich allgemeines Wohlgefühl, besseres Stehen und Gehen ein. Weitere Verbesserungen waren erfahrbar bei der Atmung und den Blutdruckwerten. Es ist für mich immer wieder ein Wunder, wie einfach Qigong wirken kann, sobald die Konzentration auf die Atmung, die Bewegung und die geistige Ausrichtung gelenkt wird.
Seit Anfang 2005 unterrichte ich in verschiedenen Senioren-Residenzen Qigong und Bewegungen aus der Körperarbeit wie Joint-Release. Bewegungen mit dem Motto „wie könnte es noch leichter gehen“.
Residenz- bzw. Altenheim-Bewohner sind aus unterschiedlichen Motiven in diesen Häusern. Die einen sind noch autark im Geist und ihren körperlichen Möglichkeiten, möchten aber die Sicherheit haben, dass sie, wenn es später zu gesundheitlichem Abbau kommt, durch die Hausorganisation und das Pflegepersonal betreut werden. Die zweite Gruppe setzt sich zusammen aus Bewohnern, die mehr oder weniger pflegebedürftig sind. Es sind also Gruppenteilnehmer mit unterschiedlichen Bewegungsmöglichkeiten, körperlich wie geistig. Das Hauptklientel kommt aus der zweiten Gruppe.
Wann beginnt Senioren-Qigong eigentlich? Für mich beginnt es, wenn Krankheit in Verbindung mit Alter Einschränkungen auferlegt. Das heißt, der Seniorenstatus wird nicht unbedingt durch das biologische Alter bestimmt. Er beginnt erst mit starken Einschränkungen, wie zum Beispiel einem Nachlassen der Sehfähigkeit, des Gehörs, der Gedächtnisleistung, der Reaktionsfähigkeit, der Elastizität von Körpergewebe (Muskeln und Bänder), einer deutlichen Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit.
Senioren-Qigong beginnt nach meiner Erfahrung damit, dass komplexe Bewegungen schlechter oder gar nicht mehr aufgenommen werden und dadurch zu Entmutigung führen können. „Dazu bin ich zu alt“ ist eine beliebte Erklärung der Teilnehmer. Ob das jeweils stimmt, sei mal da hingestellt, denn die meisten Übungen können mit reichlich Geduld noch erlernt werden. Zu den komplexeren Bewegungen zähle ich beispielsweise die „Wolkenhände“. So schön sie auch sind, zuerst stellen diese Bewegungen eine starke Herausforderung dar. Mit viel Zuspruch und Vorübungen werden sie aber auch gemeistert.
Mit den Senioren kann ich am besten arbeiten, wenn sie die Bewegungen im Sitzen ausführen, da längeres Stehen ermüdend wirkt. Selbst aufrechtes Sitzen ist für einige Teilnehmer auf längere Zeit schon zu viel. Ab und zu erzählen mir Senioren, dass sie das auch alles im Stehen machen könnten, so wie in der Gruppe damals, bei der sie mitgemacht hätten. Leider stellt sich aber heraus, dass sie dann doch nicht soviel Kraft haben und froh sind, beim Qigong wieder mit sitzen zu können.

Erwartungen anpassen
Mein Konzept ist also zugeschnitten auf Senioren, die nicht mehr lange stehen können sowie altersbedingte Konzentrationsstörungen aufweisen oder von Demenz* bis hin zu Alzheimer* betroffen sind. Es hat sich durch Einzelfälle von starker Demenz in den allgemeinen Hausgruppen ergeben, dass ich jetzt auch speziell mit Gruppen von Demenzkranken Qigong praktiziere. Hier liegt der Schwerpunkt darauf, dass Reize gesetzt werden, und es ist eine Art der Zuwendung, auch wenn die Übungen meist schon beim Aufstehen vom Stuhl wieder vergessen sind.
Dazu sitze ich mit den Senioren zusammen und mache die Bewegungen vor, einige machen mit, andere nicht. Oft beginnen letztere nach einiger Zeit, die Bewegungen auch selbst auszuführen oder zeigen durch ein Lächeln auf ihrem Gesicht ihre Anteilnahme. Bei manchen Menschen ist es schon ein großer Erfolg, wenn sie überhaupt eine Reaktion zeigen, sei es in Form von Bewegung oder auch verbal.
Als Übungen eignen sich bekannte Reihen wie das „18 Bewegungen Taiji Qigong oder die Brokatübungen, die auf die sitzende Position und die Möglichkeiten der Teilnehmenden abgestimmt werden.
Diese Menschen bedürfen einer anderen Aufmerksamkeit in Ansprache und geduldigem Vormachen, und es ist mit immer wieder überraschenden Reaktionen zu rechnen. Da passiert es schon mal, dass ein Teilnehmer nach wenigen Minuten fragt, wo er ist oder was wir hier machen, und das immer und immer wieder. Auch wird mal alles, was so rumliegt - einschließlich Mobiliar - hin und her geräumt. Eine meiner alten Damen fragt immer nach, wann denn nun ihre Eltern kämen, um sie abzuholen, sie sei ja schließlich noch ein Kind.

Spiegel des Vergänglichen
Das Arbeiten mit alten und auch kranken Menschen wird zu einem Spiegel für mich selbst. Denn auch ich merke, dass ich nicht mehr so fit bin wie „damals“, und auch ich werde mal, wenn ich denn so alt werde, wie meine Teilnehmer nicht lange stehen können. Die Atmung wird vielleicht eingeschränkt sein und was ist, wenn ich starkes Rheuma habe, die Gelenke schmerzen? Oder werde ich starke Demenz haben? Lauter nicht aufzuhaltende Alterserscheinungen, die möglich sind. Alt werden bedeutet einen Zerfall des Körpers und des Geistes. Was folgt ist das Sterben, was ich immer wieder miterleben darf.
Wie sagte eine Grande Dame einmal zu mir: „Hier im Altersheim ist unser letzter Lebensplatz und dann ist es aus.“ Und ich werde es auch nicht anders erleben, Alter und Tod sind mir und allen andern gewiss. Für mich bedeutet diese Tatsache eine Möglichkeit, meinen Ängsten in die Augen zu schauen und, wie ich hoffe, vorbereitet zu sein.

Kreative Mischung
Das Konzept für das Programm „Chinesisch Fit im Alter“ (CFA) ist aus der Zusammenarbeit mit Jan Leminsky, Taijiquan-Lehrer und Leiter der Taiji & Qigong Schule WuWei Hamburg, entstanden. Hierzu nehme man das altbewährte Qigong und dosiere es passend für die Möglichkeiten der Senioren. Das Ganze wird mit westlicher Gymnastik/Körperarbeit sowie qualifiziert beobachtender und einfühlsamer Anleitung ergänzt. Es liest sich wie ein Rezept zum Kochen oder Backen, und so ist es auch: Wir erüben ein neues Lebensgefühl für den Alltag. Es verbessern sich die Beweglichkeit, die Atmung, der Blutdruck, die Konzentration und die Seele wird aufgeheitert.

Das Rezept
Man nehme Übungen, die den Kreislauf anregen und die Gelenke mobilisieren (aus unserem reichen westlichen Fundus), reichere diese mit Wahrnehmungsübungen an, die die Atmung bewusst machen und erleben lassen, wie sich einzelne Segmente des Körpers anfühlen, etwa die Schultern, der Nacken, die Arme. Spüren, wie die heutige geistige Verfassung ist - haben wir ein freudvolles, inneres Lächeln oder eher eine bedrückte Stimmung? Die Grundlage sind dann Qigong-Bewegungen im Sitzen. Bilder, die sich auch aus den Namen der Bewegungen ergeben, helfen bei der Umsetzung.
Einen wichtigen Zugang für diese neue Erfahrungswelt bilden Informationen zur Herkunft der Übungen und zur chinesischen Medizin. Erläuterungen zum chinesischen Weltbild und zum Zusammenhang zwischen Qigong und Akupunktur, die ja meistens schon etwas bekannter ist, wecken Interesse und Vertrauen in diese Methode. Das Ganze mit viel Geduld, Einfühlungsvermögen und Humor garen lassen.
Für manche wären natürlich auch Übungen im Stand und im Gehen sinnvoll, da jedoch viele Teilnehmer dazu gar nicht im Stande sind, ist es in den Gruppen schwierig, solche Übungen einzusetzen. Es zeigt sich jedoch, dass die Teilnehmer auch so, wenn sie nur im Sitzen üben, anschließend besser gehen können. Das motiviert manche dazu, wieder mehr zu Fuß zu gehen und insgesamt mehr in Bewegung zu kommen. Das „Geheimnis“ hierbei ist die bessere Aufrichtung, die auch beim sitzenden Üben erreicht wird. In einer aufrechten Haltung stehen die Menschen sicherer auf ihren Füßen und das Gehen fällt ihnen leichter.
Diese Form von Qigong-Gruppen sind für die älteren Menschen ein neuer Fixpunkt in der Woche. Ich konnte beobachten, wie die sozialen Kontakte unter den Hausbewohnern der Residenzen anfangen zu blühen, ebenso die Einstellung zum Leben generell positiver wurde. Die Bewohner fangen an sich darum zu kümmern, dass ihre Mitübenden den Termin nicht vergessen, oder machen ihnen Mut bei Selbstzweifeln – „Ich bin zu alt und krank“ - oder Antriebslosigkeit.
Es darf gelächelt werden und nichts muss oder sollte perfekt sein. Es geht, was eben geht, und das ist dann auch das Beste für den Moment. Darüber hinaus verbessert sich die körperliche Lebensqualität mit weniger Rückenschmerzen, sichererem Gehen, einer Verbesserung bei hohem und zu niedrigem Blutdruck, besserer Verdauung - immer gerne ein Thema. Die geistigen Fähigkeiten werden wieder angeregt, das Interesse wird größer: „Was ist denn so los? Erzählen Sie doch mal und haben Sie das auch gehört?“ Wirkliches Altern fängt für mich persönlich im eigenen Geiste an, wenn ich nicht mehr neugierig bin, Neues zu erfahren aus der Welt.
Für mich als Unterrichtendem ist die gemeinsame Zeit mit den Senioren eine bereichernde Erfahrung und es erfüllt mich mit Freude, dass ich meine Fähigkeiten aus den Bereichen Joint-Release*, Qigong und Körperarbeit so sinnvoll einsetzen kann, getreu dem Motto:

„Die höchste Vollkommenheit der Seele ist ihre Fähigkeit zur Freude.“ (Marquis de Vauvenargues)

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*Joint-Release
(Gelenklockerung) ist eine besondere Art der Körperübungen und Massage, die mit wiegenden, rhythmischen Bewegungen ausgeführt wird. In einer Joint-Release-Massagesitzung werden gezielt Wellen durch den Körper geschickt, um muskuläre Verspannungen aufzuspüren und zu lösen. Gearbeitet wird ohne Öl, so dass auch Einzelsitzungen mit Kleidung möglich sind.

*Demenz
Eine Demenz (lat. dementia, „Verrücktheit“, „verwirrt“) ist ein Defizit in kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten, das zu einer Beeinträchtigung von sozialen Funktionen führt und fast immer, aber nicht ausschließlich mit einer diagnostizierbaren Erkrankung des Gehirns einhergeht. Vor allem sind das Kurzzeitgedächtnis, das Denkvermögen, die Sprache und die Motorik, bei einigen Formen auch die Persönlichkeitsstruktur betroffen.

*Alzheimer
Die Alzheimer-Krankheit (lat. morbus alzheimer) und die senile Demenz vom Alzheimer-Typ sind eine in der Regel über Jahre gleichmäßig langsam fortschreitende Demenz-Erkrankung des Gehirns, die vorwiegend im Alter auftritt. Die Krankheit beginnt mit geringer, anscheinend zufälliger Vergesslichkeit und endet im Verlust des Verstandes. Im Anfangsstadium ist sie schwer von der normalen Vergesslichkeit abzugrenzen. Sie ist eine Erkrankung des Alters und tritt nur selten vor dem 60. Lebensjahr auf.

 

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